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Prof. Heit von der School of Humanities im Gespräch mit Matthias Politycki und Prof. LIU Wei über Freiheit oder Schönheit

13. Sep. 2018 19:00

Ort:   Abteilung Kultur und Bildung des Deutschen Generalkonsulats Shanghai, 101 Cross Tower, 318 Fu Zhou Lu, 200001, Shanghai

Veranstalter:Goethe-Institut

 

„Schrecklich schön und weit und wild“

- Über Wahres und Schönes in Literatur und Philosophie

 

Datum: Donnerstag, 13.09.2018, 19:00 Uhr

Ort: Abteilung Kultur und Bildung des Deutschen Generalkonsulats Shanghai, 101 Cross Tower, 318 Fu Zhou Lu, 200001 Shanghai

Im Gespräch: Matthias Politycki, Helmut Heit und Wei LIU

Sprache: Deutsch

 

Mitten im alten China, Anfang der 80er-Jahre: Ich war mit einer Chinesin unterwegs, die sich in den Kopf gesetzt hatte, mir abseits des vorgegebenen touristischen Pfades das „echte“ China zu zeigen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir einer unserer spontanen Besuche bei einem Bauern: Nachdem man mich auf den Ehrenplatz genötigt hatte, gab es Tee mit Zucker, viel Zucker; und obwohl ich den Tee lieber ungesüßt getrunken hätte, war Widerspruch zwecklos. Zucker sei das Kostbarste, was man mir auf dem Land anbieten könne, so meine Reisebegleiterin, das dürfe man

nicht ablehnen.

 

Und so ging es, im Prinzip, auch bei all meinen weiteren Reisen in den Fernen Osten zu, ob in China, Japan oder Korea, die Gastgeber waren stets bestrebt, mich gegen meinen Willen zu verwöhnen. Im Zweifelsfall sogar mit Wiener Schnitzel; daß ich viel lieber „authentisches“ Essen gehabt hätte, ließen sie nicht gelten. Rücksichtsloser kann Gastfreundschaft kaum sein: Man bekommt gegen seinen Willen nachgelegt und -geschenkt, muß auf Kommando singen, Trinksprüche erfinden und auf ex kippen, Stegreifgedichte zum Besten geben oder Lobreden auf das Land des Gastgebers; der Gast ist nichts anderes als ein Gefangener im goldenen Käfig, der durch permanente Entmündigung vollkommen mürbe gemacht wird - so jedenfalls könnte man’s als hartgesottener Westler sehen.

 

Und im umgekehrten Fall, wie mag man als Chinese deutsche Gastfreundschaft erleben? Vorsichtig formuliert: als ziemlich informell. Was wird er wohl empfinden, wenn er schon bei der Begrüßung aufgefordert wird, sich „hier wie zu Hause“ zu fühlen - wo man sich als Gast im Fernen Osten doch alles andre als zu Hause fühlen soll? Sondern wie im Siebten Himmel? Nicht selten habe ich von deutschen Gastgebern den gutgemeinten Satz „Mein Kühlschrank ist dein Kühlschrank“ gehört, sprich: Iß und trink soviel du magst, aber stör mich bitte nicht mit deinen Wünschen; und einmal, vor Jahrzehnten in einer WG, als ich tatsächlich zum Kühlschrank ging, war er bis auf ein paar verschrumpelte Tomaten leer – als Gast war man hier Mitbewohner und hatte erst mal selber einzukaufen.

 

So schlimm kommt’s sonst nur in einem Roman; doch auch in sogenannten gutbürgerlichen Haushalten saß ich oft genug vor einem leeren Glas, weil’s der Gastgeber mit dem Nachschenken nicht so genau nahm, die Flasche stand ja für jeden griffbereit auf dem Tisch, ich war in seinen Augen sozusagen selber schuld. Eine Kleinigkeit? Allerdings eine bezeichnende; solche Gastgeber versäumen es nicht selten auch, ihre Gäste untereinander ins Gespräch zu bringen, erwarten im Grunde, daß man das selber macht („Na, haben Sie sich schon bekannt gemacht?“), wohingegen der ritualisierte Austausch von Visitenkarten im Fernen Osten nicht ohne Grund Pflichtauftakt jeder Unterhaltung ist. Bei uns soll es möglichst „relaxt“ zugehen, Etikette wird nicht mehr als wunderbare Hilfestellung für alle Beteiligten begriffen, sondern als alter Zopf, der - das verhängnisvolle Erbe der 68er - abgeschnitten gehört.

 

Wie oft habe ich mich in solchen Situationen in Grund und Boden geschämt, wäre am liebsten erst wieder auf der anderen Seite der Welt aufgetaucht, wo man zwar oft ins entgegengesetzte Extrem verfällt, unsere im Grunde kümmerliche Emanzipation von traditionellen Spielregeln jedoch nicht schätzt. Gut, die neudeutsche Form der Gastfreundschaft basiert auf der Idee, den Gast gar nicht als Gast, sondern als vorübergehenden Teil der Familie zu behandeln - er muß sich ins Gefüge unsres Alltags einordnen, und das brave Hinaustragen des Geschirrs steht symbolhaft für seine Demokratisierung, während er andernorts noch als König hofiert wird. Absurderweise fühlen wir uns dabei tatsächlich frei und vielleicht sogar wohl, als ob in dieser nachlässigen Auffassung von Gastfreundschaft unser höchstes Gesellschaftsideal zum Ausdruck kommt: ein grundsätzliches Laissez-faire, von fernöstlichen Besuchern fälschlicherweise als Achtlosigkeit empfunden, in Wirklichkeit stillschweigende Huldigung der Freiheit - bei welcher Gelegenheit auch immer.

 

Soweit, so gut. Doch könnte man das nicht auch als ganz grundsätzlichen Kultur- und Werteverlust begreifen, der nicht mehr viel an Spielregeln übriggelassen hat denn diese hemdsärmelige Kumpanei von Gast und Gastgeber? Von einem Chinesen, schätze ich, wird derlei lächelnd als Rüpelhaftigkeit ertragen, wo es in Wirklichkeit meist nur Gedankenlosigkeit ist; während der distanzierte Formalismus fernöstlicher Etikette, von uns fälschlicherweise als Verklemmtheit empfunden, in Wirklichkeit nichts Geringeres ist als eine Art Ästhetizismus - welch ein Aufwand, um miteinander einen schönen Abend zu inszenieren! Daß Schönheit nur unter Schmerzen entsteht, ja daß eine Essenseinladung im Fernen Osten Gefahr läuft, in ein sadomasochistisches Ballett auszuarten, versteht sich, Schönheit ist von jeher Gewaltanwendung.

 

Bedingungslos gastfreundlich die einen, bis hin zur Überwältigung des Gastes; auf beiläufige Weise ungastlich die anderen? Beides problematisch, die gängige Kritik am chinesischen Anti-Individualismus könnte mühelos durch Kritik an unserem Hyper-Individualismus konterkariert werden. Es täte uns jedenfalls nicht unbedingt schlecht, wenn wir anhand des fernöstlichen Vorbilds von Gastfreundschaft (nicht von dessen Karikatur, versteht sich) wieder in eine neue Höflichkeit, vielleicht auch einmal: Verbindlichkeit des Umgangs miteinander fänden.

 

Nachschrift: Viel war die Rede von der deutschen Gastfreundschaft anläßlich der WM 2006, die Medien überschlugen sich vor Begeisterung über unsre neue Herzlichkeit im Umgang mit allen, die da zum Mitfeiern gekommen waren. Die Frage ist freilich, ob ein friedliches Besäufnis von Fußballfans verschiedener Nationalitäten schon etwas mit tatsächlicher Gastfreundschaft zu tun hat. So wie ich die entsprechenden Situationen auf der Hamburger Fanmeile selber erlebt habe, war der Jubel über die deutschen Siege schlichtweg so groß, daß jeder Ausländer im Überschwang vorübergehend zwangseingemeindet wurde - vorübergehend! Viele blieben trotz allem eher in ihrer eignen Fangruppe; und wenn sie gar in die allgemeine Seligkeit nicht einzustimmen gewillt waren - wie beispielsweise die Italiener nach ihrem Sieg über die deutsche Elf -, so war es mit dem gemeinsamen Feiern auch schon vorbei. So lange wir die Spielregeln vorgeben und dabei trotzdem unverbindlich bleiben durften, so lange waren wir gastfreundlich; alles andre ist von den Medien entsprechend hochgejubelt worden und danach schnell wieder einer normalen Gastlichkeit gewichen.

 

Autor:

 

© Mathias Bothor

 

Dr. Matthias Politycki wurde 1955 in Karlsruhe geboren und gilt als Weltreisender unter den deutschen Autoren. Seit seinem Romandebut 1987 arbeitet er als freiberuflicher Autor und etablierte sich schnell zu einer wichtigen Stimme innerhalb der deutschen Gegenwartsliteratur. Gestalterische Vielfalt, künstlerische Sprache und Humorgepaart mit einer Brise Ironie und einer Fülle an Anspielungen und Zitaten lassen seine Arbeit aus der Masse herausstechen. Matthias Politycki hat mittlerweile 30 Bücher, darunter Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays sowie Hörbücher publiziert. Außerdem schreibt er für namenhafte Zeitungen und Magazine, fördert die zeitgenössischen Diskurse und Debatten in den Feuilletons und Medien und hält national und international Lesungen.

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